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Junge Influencer*innen, alte Klischees

Geschlechterrollen in sozialen Netzwerken

Beitragsbild - ein Schiebespiel, bei dem man verschiedene Köpfe, Ober- und Unterteile hin und her schieben kann

Die Kleiderstange in ihrem Ankleidezimmer ist mehrere Meter lang. Mit rot lackierten Fingernägeln durchstreift Mavie die dort aufgehängten Oberteile auf der Suche nach dem passenden Outfit. „Okay, nichts zum Anziehen“ resümiert sie. „Wem geht’s genauso?“, fragt ihre Stimme aus dem Off. Diese Frage richtet sie an ihre 512.000 Abonnent*innen bei YouTube.

Mavie ist 12 Jahre alt und damit Mini-Influencer*in. In ihrem Shop kann man den „Girlie Hoodie Totally Chilling“ für 49,95€ kaufen, beim Piper Verlag zwei Bücher von ihr. Auf Instagram hat sie 214.000 Abonent*innen. Addiert man die Follower*innen von Nachrichtensprecherin Judith Rakers, Juso-Chef Kevin Kühnert und Autorin Margarete Stockowski, ist Mavies Reichweite immer noch deutlich größer.

Das eingangs beschriebene Video trägt den Titel „Meine back to school Morgenroutine“ und wurde bereits über 570.000 Mal angeschaut. Auch von Greta (Name geändert). Sie ist 11 und geht in die 5. Klasse einer Realschule. Über ihre Klassenkameradinnen dort ist sie auf die Videos von Mavie und anderen Mini-Influencer*innen wie Ilia oder Miley gestoßen und häufig schauen sie die neuesten Clips gemeinsam an.

Mavie Noelle: MEINE BACK TO SCHOOL MORGENROUTINE Schule | MaVie Noelle Routine Family. YouTube, 31.08.2019, https://www.youtube.com/watch?v=0D1ws_NKqVA

Greta wächst in einem Umfeld auf, das gemeinhin als behütet bezeichnet werden kann. Sie lebt mit ihrem älteren Bruder und ihren Eltern in einem ländlich gelegenen Haus nur eine kurze Busfahrt von der Stadt entfernt. Ihre Eltern sind beide berufstätig. Seit Greta zur Schule geht, ihre Mutter auch wieder in Vollzeit.

Mädchen sind hübsch - Jungs sind wild

Schaut man sich einige Videos an, fällt einem schnell die klare Rollenverteilung auf. Mädchen sind hübsch – Jungs sind wild. Mädchen spielen brav – Jungs toben wild. Mädchen interessieren sich für Mode, Beauty und Design – Jungs interessieren sich für Let’s Plays und Gaming Videos. Eine These, die auch von Studien wie der „Jugend / Youtube / Kulturelle Bildung. Horizont 2019“ belegt wurde. Warum konsumieren Jungs und Mädchen so unterschiedliche Inhalte? 

Die Diplomsozialwirtin Maike Groen, die an der TH Köln zum Thema „e-Sport als Jugendkultur“ promoviert, sagt, das hätte damit zu tun, wie mit divergentem oder abweichendem Verhalten umgegangen wird. Heranwachsende stecken in einer intensiven Phase der Identitätsentwicklung und Selbstfindung, die in Abhängigkeit von Gruppen und Gruppengefügen stattfindet. „Das heißt, das Bedürfnis, dazugehören zu wollen, kommt dazu oder wird größer. Ich will auch auf dem Schulhof über das neuste Video mitreden können. Dann bin ich sozusagen gezwungen, diese Dinge zu konsumieren oder sie anzunehmen. Ansonsten bin ich diejenige, die den Witz nicht kennt, die nicht mitlachen kann und die Außen vor ist.“ Das lässt sich, so Groen, auf die Themengebiete in YouTube-Clips übertragen. „Wenn ich als Mädchen dabeibleiben würde, Let‘s Plays zu schauen, dann würde ich in meiner Peergroup darüber nicht reden können.“ Der Wegfall des gemeinsamen Austauschs macht die Sache unattraktiver.

Ein anderer Punkt, weshalb wir bei den bekannten Themen bleiben, ist der YouTube-Algorithmus. Wer anfängt, bestimmte Videos zu schauen, bekommt anschließend ähnliche vorgeschlagen. Bis sich der Fokus vollkommen darauf ausrichtet.

Die Geschlechterrollen, die in den Videos vermittelt werden, sind tradiert bis hin zu reaktionär. Und das bei einem so neuen und doch eigentlich innovativen Medium wie YouTube. Die Medienpädagogin Maike Groen sagt, dass auch das am Algorithmus liegt, der den Mainstream penetrant verschärft. „Dadurch, dass ein kommerzielles Interesse hinter den Plattformen steht, werden die Inhalte, die bisher gut liefen, weiter gepusht. Was dazu führt, dass es fast einen Zwang gibt, bestimmte Inhalte zu konsumieren.“ Doch gleichzeitig eröffnet YouTube auch neue Möglichkeiten. „Es gibt schon auch Inhalte, die konstruktiv sind. Es gibt zum Beispiel ein Netzwerk von Trans-Aktivist*innen und auch Inhalte, die sich explizit an Jugendliche richten, die alternative Rollenbilder zeigen.“

Greta kennt diese alternativen Kanäle, wie zum Beispiel „Auf Klo“ nicht. Sie schaut auch keine Videos von männlichen Influencern. Ihr älterer Bruder, sagt sie, schaut manchmal Clips von Julien Bam. Ihr gefällt an den Videos von Mavie, dass man sie in ihrem Alltag begleiten kann. Als rede eine Freundin mit ihr. Am liebsten schaut sie sich Videos an, in denen die Influencerinnen Dinge einkaufen. Neue Kleidung, neue Deko für ihre Zimmer, neue Spielsachen. Ihr eigener Alltag jedoch sei schon anders als der von Mavie, sagt Greta.

Mavie Noelle: so sehr gewünschte ROOMTOUR 2017 ❣ Zimmer Deko. YouTube, 24.05.2017, https://www.youtube.com/watch?v=VSoSfgbx3MM

Optisch erinnert auch Greta an den Look der Mini-Influencer*innen. Sie hat lange blonde Haare, deren Styling und Pflege ihr wichtig ist und sie trägt ein modisches Outfit mit vielen Accessoires. Sie verneint die Frage, ob sie Dinge, die sie ihn den Videos sieht, gezielt nachkauft. Später aber erzählt sie, dass sie sich zu Weihnachten einen Scrunchy, das sind elastische Haarbänder mit auffallenden Farben oder Mustern, wünscht – genauso einen wie ihn auch Ilia vom Kanal Ilias Welt mit 174.000 Follower*innen oft in ihren Videos am Handgelenk trägt.

YouTube ist das kulturelle Leitmedium für 12 bis 19-Jährige. Die Studie „Jugend / Youtube / Kulturelle Bildung. Horizont 2019“ hat herausgefunden, dass 86 Prozent der Befragten dieses Alters die Plattform nutzen. Nur WhatsApp ist noch weiter verbreitet. Was benötigen Kinder wie Greta, um ihre Geschlechtsidentitäten trotzdem individuell und frei von Vorurteilen entfalten zu können? „Unterstützung und Zuneigung, Akzeptanz und Respekt“, sagt Maike Groen. Also ganz grundlegende Werte, damit sie ein Selbstwertgefühl und ein Körpergefühl entwickeln können, das positiv ist. „Und im Bereich von Medien brauchen sie alternative Vorbilder. Und das meine ich nicht nur in Bezug darauf, welche Hobbies man haben kann. Sondern auch gerade explizit in Bezug auf sexuelle Identität und Körperbilder.“

Auch Greta ist ihr Äußeres wichtig. „Ich überlege mir meistens am Abend vorher, was ich am nächsten Tag in die Schule anziehen möchte. Manchmal dauert das nämlich ein bisschen länger und so kann ich morgens länger schlafen.“ Viele ihrer Freundinnen machen das auch so, sagt sie. In ihrer Freizeit geht sie einmal die Woche zum Jazz-Dance. Dort tanzen nur Mädchen mit ihr, weshalb ihr Freundeskreis weitestgehend weiblich ist. Manchmal setzt sie sich ins Zimmer ihres Bruders, wenn seine Freunde zum Fifa Spielen vorbeikommen. „Aber das finde ich langweilig. Sie lassen mich auch nicht mitspielen, nur zuschauen.“ Ob sie manchmal mit ihrem Bruder oder anderen Jungs die Videos von Mavie anschaut? „Nee, Jungs interessiert das nicht.“

Was Eltern tun können

Kann man als Eltern die jugendlichen Kinder, die Mini-Influencer*innen folgen, auf Geschlechterstereotype aufmerksam machen und sensibilisieren? „Ich würde sagen, dass man auf jeden Fall erreichen kann, dass eine kritische Reflexion angeregt wird“, sagt Pädagogin Maike Groen. Doch die heranwachsenden Follower*innen sind in einem Alter, in dem die Eltern weiter in den Hintergrund rücken und andere Formen der Sozialisation, wie die Peergroup sich stärker in den Vordergrund drängen. „Da ist klar, dass man als Jugendliche*r in der Adoleszenz auf eine gewisse Art versucht, sich zu emanzipieren und davon abwendet, was die Eltern wollen. Ich glaube, der wichtigste Schritt wäre, eine Kommunikation von den Eltern mit den Kindern aufrechtzuerhalten und sich damit zu beschäftigen, was die Kinder konsumieren. So kann man sich dann auch kritisch damit auseinandersetzen und Anmerkungen darüber machen.“ Eltern sollten die Videos nicht pauschal verurteilen, sondern dazu Fragen stellen wie „Was gefällt dir daran?“ und „Warum schaust du es?“.

Die Anwendung geschlechterreflektierter Medienpädagogik empfiehlt Groen ebenfalls. Darunter versteht man, die Vermeidung , Mädchen und Jungen pauschal bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten oder Vorlieben zuzuschreiben und zu bewerten. Durch den individuellen Blick ermöglicht man allen Geschlechtern Verhaltensfreiheit.

Über die Frage, ob die Influencerinnen in den Videos für sie Vorbilder sind, denkt Greta lange nach bevor sie verneint. Sie in diese Rolle zu drängen, findet Diplomsozialwirtin Maike Groen auch nicht ganz fair. „Ich glaube, dass die meisten Leute damit überfordert sind, eine Vorbildrolle auszufüllen.“ Und in ihrem Alter könne Mavie noch gar nicht vollkommen verstehen, was ein Vorbild überhaupt ist. Sie ist ja schließlich erst 12.

Männliche Geschlechterrollen

Auch Jungs sind Geschlechterklischees ausgesetzt. Bei den 12 bis 19-Jährigen sind vor allem Pranks – also gewagte Streiche – und Let’s Play Videos sehr beliebt. In den Videos geht es hauptsächlich um Risikobereitschaft, Konkurrenzdenken und Kräftemessen. Die Videos vermitteln die Botschaft, dass es besonders heranwachsende Männer sind, die Mut beweisen und stark sind.

Empfehlungen

Für Heranwachsende, die alternative Rollenbilder suchen, kann man folgende Kanäle empfehlen:

  • Auf Klo ist ein Talkformat auf YouTube, gestartet von funk. Ziel ist es, mit Klischees aufzuräumen und offen über Themen wie Freundschaft, Sex und Liebe zu reden
  • Die Bloggerin und Musikerin Marie Meimberg initiierte den Hashtag #nichtschoen, um zu kritisieren, dass Frauen – anders als Männer – nur nach dem Aussehen beurteilt werden (eher für ältere Jugendliche geeignet)
  • Hyperbole versucht, politische Themen auch für ein jüngeres Publikum verständlich und interessant zu erklären
  • Lisa Sophie Laurent redet auch über Themen wie Body Positivity, Nachhaltigkeit und Depressionen
  • Mirella von Mirellativegal ist mit ihrer Selbstironie ein alternatives Vorbild für junge Mädchen

Beeinflusst Social Media die Einstellungen und Vorstellungen seiner jungen Rezipient*innen?

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