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Zwischen Ideal und Realität

Familienbilder in sozialen Netzwerken

Beitragsbild - eine Kamera, auf deren Bildschirm eine fröhliche Familie zu sehen ist

Welches Familienbild wird uns auf sozialen Netzwerken wie YouTube vermittelt, und welche Bedeutung wird dem Konstrukt Familie heute zugeschrieben?

Grundsätzlich fällt es schwer, das Thema überhaupt greifbar zu machen oder anhand bestimmter Faktoren klar zu bestimmen. Es gibt nicht das eine Video, das zeigt, wie die YouTube-Welt den Begriff Familie definiert. Und trotzdem findet sich das Thema Familie in fast allen Lebensbereichen der Influencer*innen wieder. Angefangen von den ganz kleinen YouTuber*innen bis hin zu den großen YouTube-Stars wie Bianca Claßen kurz Bibi: Nicht selten wird das gesamte, meist sehr harmonische Familienleben mit der YouTube-Community geteilt.

Viele YouTuber*innen sind jung, in Beziehungen, ziehen früh zusammen, verloben sich, heiraten. Sie bekommen Kinder, die Schwangerschaften verlaufen meist reibungslos, sind aber immer geprägt von viel Unterstützung durch Partner, Freunde und Familie. Sie lieben öffentlich und gehen mit ihrem*ihrer Partner*in durch Höhen und in seltenen Fällen auch Tiefen. Beziehungen und das Konzept Familie an sich ist ein extrem hohes Gut in dieser Welt. Familie scheint ein auf YouTube vermitteltes Lebensziel zu sein, der Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben. Das zeigt sich auch in der Unboxing-Youtube-Studie von 2019, in der die Top-100-Känale von YouTube durch Inhaltsanalysen untersucht und durch Interviews ergänzt wurden.

Familie auf YouTube – oft auch ein tradiertes Bild, das den Nutzer*innen vermittelt wird. Das aber nicht unbedingt der Realität der heutigen Zeit entspricht, sollte man zumindest denken. Heiraten ist längst kein Meilenstein mehr, das Konzept Ehe wird zunehmend in Frage gestellt. Und um ehrlich zu sein, muss man dafür nur einmal in den eigenen Bekanntenkreis blicken. Viele Eltern leben geschieden. Zahlen des statistischen Bundesamtes besagen, dass auf jede dritte Eheschließung eine Scheidung fällt. Die Scheidungsquote lag aber in den Jahren zwischen 2005 und 2011 deutlich höher bei ca. 50%. Das Heiratsalter hingegen steigt seit 1991 kontinuierlich an und lieg bei Frauen und bei Männern über 32 Jahren. Auch das Familienleben ist nicht immer harmonisch, nicht alle Kinder wachsen behütet im Nest ihrer Eltern auf. 2018 lebten in Deutschland ca. 2,6 Millionen Alleinerziehende mit Kindern. Sehnen wir uns vielleicht gerade deshalb so sehr nach Halt und Beständigkeit?

Dieses verzerrte Bild der Realität auf Social Media wird zumindest uns schnell bewusst. Wir können die Scheinwelt erkennen und vor allem hinterfragen. Kinder und Jugendliche sind allerdings nicht immer so reflektiert wie wir. Welche Auswirkungen haben solche verschiedenen Realitätsbilder auf Kinder die bspw. viel YouTube konsumieren? Was passiert, wenn Kindern im frühen Alter ein Familienbild präsentiert bzw. vorgelebt wird, das keinesfalls ihrem eigenen entspricht? Wir haben versucht, die Problematik bildlich darzustellen:

Zu sehen ist der Steckbrief von Leon. Er ist 12 Jahre alt, besucht die 6. Klasse und seine Eltern leben getrennt.
Leon und sein Papa sitzen zusammen im Auto. Sein Papa sagt: "Ich habe das Videospiel auf deinem Wunschzettel gesehen. Wir müssen gleich nochmal mit Mama über Heiligabend sprechen, vielleicht kannst du mir da ein bisschen helfen..."
Leon steht hinter der offenen Kinderzimmertür. Seine Eltern stehen im Flur und streiten sich laut. Leons Papa sagt:"Dieses Jahr sind die beiden ja bei uns über Weihnachten, wir hatten überlegt bis zum 2. Feiertag zu Kerstins Eltern zu fahren." Leons Mama schimpft nur unverständlich.
Zu sehen ist wieder sein Handybildschirm. Er sieht sich das Video "Spieleabende mit der Familie **Weihnachtsspecial**" an.
Leon kommt aus dem Schulgebäude und wird von seinem Papa im Auto abgeholt. Leons Papa lebt mit seiner neuen Freundin am Rand der Stadt. Er arbeitet in der Luftfahrtlogistik am Flughafen und das hauptsächlich in Nachtschichten. Er sieht seinen Sohn daher nur selten.
Oben angekommen öffnet die Mutter öffnet die Tür und sagt:"Danke, dass du ihn von der Schule abgeholt hast, ich hätte es heute nicht geschafft, mein Auto ist immer noch in der Werkstatt." Daraufhin antwortet Leons Papa:"Kann ich noch kurz mit reinkommen? Wollte noch über Weihnachten sprechen."
Leon schließt die Zimmertür. Leon bekommt diese Streitigkeiten häufig mit. Wenn es ihm zu viel und zu laut wird, sucht er nach Ablenkung. Dann zieht er seine Kopfhörer auf und guckt sich Videos seiner Lieblings-YouTuber an.
Leon sitzt dabei unter seiner Bettdecke auf dem Bett und stellt sich Fragen wie:"Warum sind alle an Weihnachten so glücklich? Können Mama und Papa nicht zusammen feiern? Wieso bekommen die anderen so viele Geschenke?Warum gibt es hier immer nur Streit?"
Zu sehen sind zwei YouTube-Thumbnails. Darüber steht Realität vs. Wunschvorstellung. Das eine Bild zeigt Leons, der sicht an Weihnachten nicht zwischen Mama und Papa entscheiden kann. Das andere Bild zeigt ein Weihnachtsfest als glückliche Familien. Die Titel der Videos lauten: "Wo soll ich Weihnachten feiern?" und "Fröhliche Weihnachten mit der ganzen Familie."

Diese kurze Geschichte haben wir auf der Grundlage eines Interviews mit Nina Rübsam ausgearbeitet. Sie ist Psychologin und arbeitet in einer heilpädagogischen Tagesstätte mit Kindern im Alter zwischen 7 und 12 Jahren. Diese kurze Geschichte mag fiktiv sein, ist aber keinesfalls unrealistisch. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Jeder Mensch durchlebt früher oder später die Pubertät, ein Alter, in dem man nach Orientierung und Vorbildern sucht. Jeder kennt diesen Zustand. Fehlen Zuhause ein Vorbild und der emotionale Halt, sucht man diese zum Beispiel online. Rübsam erzählt, dass man häufig nur schwer gegen den Einfluss der Influencer*innen ankommt und das macht den unkontrollierten Video-Konsum besonders problematisch.

In der Psychologie gibt es die Vorstellung von einem Ideal- und einem Realbild. Sie besagt, dass wir jeweils ein Idealbild, das aus Normen und gesellschaftlichen Vorstellung entsteht, und ein Realbild, also wie wir wirklich sind, von uns haben. Wenn sich diese beiden Bilder zu stark auseinander bewegen, kann das zu Unwohlsein oder psychischen Problemen führen. Diese Problematik können wir bei uns allen mehr oder minder selbst beobachten, egal in welchem Alter, aber abhängig von unserem täglichen Kontakt zur Außenwelt – ob online oder offline.

Das Problem ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, unabhängig vom Alter, in diesem Fall lässt sich wenig pauschalisieren. Der YouTube-Konsum muss aber auch nicht ausschließlich negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben. Orientierung kann durchaus positive Auswirkungen auf das zukünftige Leben haben, Wünsche und Motivation wecken. Fraglich bleibt aber, welche Werte die Mehrheit der YouTube-Videos an Kinder vermittelt und welche Wünsche das in ihnen weckt. Hier liegt die Verantwortung auch auf Seite der Content Creator. Die Abschätzung der tatsächlichen Auswirkungen von Videos ist besonders für Miniinfluencer*innen schwierig.

Von einigen YouTuber*innen wird auch schon heute versucht, die heile Familienwelt auf YouTube zu durchbrechen. So zum Beispiel bei Familie Said, die sich selbst als reale YouTube-Familie betiteln. Sie zeigen sich selbst auch in völlig verzweifelten Situationen oder überfordert vor der Kamera. 

Familie Said: Reale YouTube Familie | Es ist nicht immer alles schön | Scheinwelt auf Socialmedia | Familie Said. YouTube, 13.07.2019, https://www.youtube.com/watch?v=svy0XH-DeLY

Aber wenn wir einmal ganz ehrlich sind, wer will sich schon Alltagsprobleme auf YouTube ansehen? Wir kennen sie eigentlich alle gut genug. Und das Bedürfnis, sich in eine Traumwelt zu flüchten, haben wir alle mal – ob jung oder alt. So bewegt sich die YouTube-Welt ständig zwischen Ideal und Realität und wir als Follower*innen müssen irgendwie lernen, mit Realitätsflucht und dem Wunsch nach Orientierung umzugehen  egal in welchem Alter. Kinder sollten mit dieser Problematik allerdings nicht alleine gelassen werden.

Beeinflusst Social Media die Einstellungen und Vorstellungen seiner jungen Rezipient*innen?

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